Anfang April 2020 legte die Initiative just_unbefristet in einem Positionspapier an das Präsidium der Justus-Liebig-Universität die spezielle Problemlage des akademischen Mittelbaus in der „doppelten Krise“ – Cyberangriff auf die JLU im Dezember sowie die anhaltende Corona-Pandemie – dar.
Die „doppelte“ Krise meistern – Eine Perspektive und Forderungen aus dem Mittelbau an der JLU
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Mukherjee, sehr geehrte Frau Prof. Dr. Dolle, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Dr. Kämpfer, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Lierz, sehr geehrte Frau Kraus, sehr geehrte Damen und Herren der Universitätsleitung,
die Corona-Pandemie und ihre Folgen werden auf unabsehbare Zeit das universitäre und akademische Arbeiten beeinträchtigen, auch an der JLU Gießen. Wir alle stellen uns den pandemischen Herausforderungen und engagieren uns in unseren jeweiligen Bereichen, um den Schaden für die JLU und die Studierenden so gering wie möglich zu halten. Allerdings ist nicht erst seit dem Rundschreiben vom 1. April 2020, in dem Sie dazu anhalten, auch im Basisbetrieb der Universität alle Arbeiten, die zur Aufrechterhaltung des Forschungs-, Lehr- und Verwaltungsbetriebs notwendig sind, fortzuführen, unter uns Beschäftigten im akademischen Mittelbau eine große Verunsicherung entstanden. Mit diesem Schreiben fassen wir einige Probleme und Hindernisse der Mitarbeiter*innen des Mittelbaus für Sie zusammen. Wir wollen so unsere Situation darlegen und um Solidarität und konkrete Unterstützung bitten.
Die Situation seit #jluoffline
Unsere Universität ist in den letzten Monaten einer spezifischen Krisendynamik ausgesetzt. Bereits im Dezember des letzten Jahres hat der Internetangriff auf die JLU und das anschließende Arbeiten im offline-Modus zu erheblichen Einschränkungen unserer Arbeit geführt. Letztlich alle Arbeitsbereiche an der JLU waren (und sind) infolge des Internetangriffs mit einer erheblich erhöhten Arbeitsbelastung an der Kapazitätsgrenze konfrontiert. Bei der dadurch notwendigen Umstellung aller universitären Arbeiten waren es vor allem wir Mitarbeiter*innen im Mittelbau als Lehrende, Betreuende oder gar Scan-Beauftragte, die die von der Universitätsleitung geforderte Solidarität mit den Studierenden in kreative, praktisch handhabbare Lösungen umsetzten und neben den Kolleg*innen des HRZ dafür sorgten, dass unseren Studierenden und der JLU keine Nachteile aus der Ausnahmesituation entstehen. Für uns alle bedeutete das einen immensen zeitlichen Mehraufwand, der mit unserer individuellen Qualifikations- und Forschungstätigkeit nicht vereinbar war – diese trat entsprechend in den Hintergrund.
Neue (Lehr-)Anforderungen durch Corona
Nun macht die Corona-Pandemie erneut eine völlige Umstellung der Lehrtätigkeit und Arbeitsorganisation nötig. So muss etwa in wenigen Wochen ein Programm zusammengestellt werden, dass sowohl als Präsenzangebot als auch in digitalen Formaten umgesetzt werden kann – der Planungsaufwand erhöht sich durch die geforderte zweigleisige Planung zeitlich und inhaltlich-konzeptuell immens. Daneben die eigene Forschungstätigkeit weiterzuführen, und zwar gemessen auch an unseren eigenen hohen Ansprüchen, ist schlicht und einfach nicht möglich. Kolleg*innen (meist aus dem akademischen Mittelbau), die sich als Mentor*innen für E-Learning zur Verfügung stellen, sehen sich noch weiterem bislang unbezahlten Beratungsaufwand gegenüber. Wir fühlen uns mit der Forderung nach einem digitalen Lehrangebot alleine gelassen – abgesehen davon, ob die technischen Voraussetzungen den Anforderungen an eine digitale Lehre genügen, fehlt der übergroßen Mehrheit der Mitarbeiter*innen das Knowhow, um Online-Lernformate umzusetzen. Die Anforderung, sich in kurzer Zeit didaktische Kenntnisse zur Lehre im digitalen Raum anzueignen, bringt uns trotz spontan eingerichteter Unterstützungsmöglichkeiten seitens der E-Learning-Akteur*innen an der JLU an unsere Grenzen. Diese Situation betrifft in besonderem Maße – etwa durch noch schlechtere digitale Infrastruktur – auch die zahlreichen Lehrbeauftragten, die einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Lehre an der JLU bestreiten und auf ihr Honorar finanziell angewiesen sind.
Neben den neuen beruflichen Anforderungen sehen wir uns, unser Umfeld und unsere Studierenden gerade auch in unserem Alltag vor besondere Hürden gestellt. Dazu gehören die unsicher gewordene Erwerbsarbeit und die schwieriger mit den universitären Pflichten zu vereinende Sorge-Arbeit. Neben dem Anspruch, unseren Studierenden ein inhaltlich und didaktisch attraktives Studienangebot zu ermöglichen, muss es also, wie auch von der Hochschulrektorenkonferenz in ihrem Schreiben vom 24.03.2020 gefordert, ein unbedingtes Anliegen sein, dass den Studierenden keine Nachteile durch die gegenwärtige Situation entstehen. In Bezug auf die Bereitstellung von Online-Lehreinheiten müssen also auch die erschwerten Studienbedingungen zu Hause mitbedacht werden, wozu z.B. eine unzureichende technische Ausrüstung für das E-Learning oder der beschränkte Zugang zu Literatur, da die Bibliotheken geschlossen sind, zählen. Das Beharren auf einem regulären (online-)Semester darf hier nicht dazu führen, dass Studierende mit unzureichenden finanziellen und technischen Mitteln oder anderen privaten Einschränkungen de facto von der Lehre ausgeschlossen werden.
Erneute Verunmöglichung der eigenen Forschung/Qualifizierung
Der beschränkte Zugang zu universitären Infrastrukturen verdeutlicht die besonders erschwerten Bedingungen, mit denen wir als Wissenschaftler*innen konfrontiert sind, um den Forschungsbetrieb aufrecht zu erhalten. Durch #jluoffline hatten einige Fachbereiche auch vor Beginn der Corona-Pandemie noch immer keinen Zugang zu den Servern. Mit Corona hat sich nicht nur die administrative und organisatorische Belastung erhöht. Unsere Forschungstätigkeiten werden auch deswegen massiv eingeschränkt, weil die bestehenden Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen die Weiterführung laufender Forschungsvorhaben massiv beschneiden: Die Durchführung von empirischen Forschungsvorhaben sind nur begrenzt oder gar nicht möglich. Durch die Reise- und Kontaktbeschränkungen können notwendige Forschungstätigkeiten nicht durchgeführt werden – gerade Promovierende sind von diesen Einschränkungen besonders betroffen. Die Planung von Tagungen und Reisen, unerlässlich für den wissenschaftlichen Austausch, ist nicht mehr möglich.
Solidarität (auch) für den akademischen Mittelbau
Wissenschaftliche Qualifizierung kann unter den aktuellen Gegebenheiten gerade in befristeten (Teilzeit-)Arbeitsverhältnissen mit hohem Lehrdeputat de facto nicht stattfinden. In dieser Situation erwarten wir von der Universität und dem Präsidium ein Zeichen der Solidarität gegenüber uns Bediensteten. Wir appellieren daher an Sie, das kommende Semester so zu gestalten, dass weder die Studierenden noch die Mitarbeiter*innen an der JLU vermeidbaren Nachteilen ausgesetzt werden. Die gängige Befristungspraxis und die Vertragsbeschränkungen durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz verunsichern aktuell viele Beschäftigte und bergen große Unwägbarkeiten für die Zukunft. Speziell für Personen, die sich im sechsten Jahr der Befristungszeit befinden, ist die gegenwärtige Situation besonders belastend und daher muss hier eine schnelle und unkomplizierte Lösung gefunden werden. Für internationale Kolleg*innen können die aktuellen Einschränkungen zudem Konsequenzen für ihre Aufenthaltsgenehmigungen haben. Insgesamt ist eine Verlängerung von Befristungen über mindestens den Zeitraum der durch #jluoffline und die Corona-Pandemie hervorgerufenen Einschränkungen und/oder eine Erhöhung von Stellenanteilen und damit einhergehende Bezahlung unerlässlich, um den Stellenanforderungen an universitäre Lehre und wissenschaftliche Qualifizierung gerecht zu werden.
Für den weiteren Umgang mit der Corona-Pandemie an der JLU sehen wir daher in folgenden Punkten besonderen Handlungsbedarf:
- Wir schließen uns der bundesweiten Forderung von mehr als 10.000 Wissenschaftler*innen sowie den Forderungen der GEW Hessen nach einem „Nicht-Semester“ an: www.nichtsemester.de bzw. https://bit.ly/3dO351k
- Spezifisch für die Situation an der JLU fordern wir für den akademischen Mittelbau eine Verlängerung der Vertragslaufzeiten aller Verträge in Anlehnung an Maßnahmen der DFG und der großen Begabtenförderwerke. Dies betrifft auch die Laufzeiten der von der JLU finanzierten Stipendien.
- Vertragsverlängerungen dürfen sich aktuell nicht auf die im Wissenschaftszeitvertragsgesetz festgelegten Maximalzeiten auswirken. Die JLU muss sich in allen Gremien dafür einsetzen, dass hier rechtliche Regelungen im Sinne ihrer Mitarbeiter*innen getroffen werden.
- Bereits erteilte Lehraufträge dürfen seitens der JLU nicht wieder zurückgezogen werden. Lehrbeauftragte müssen bezahlt werden, unabhängig davon, ob ihre Lehre unter den gegebenen Bedingungen stattfinden kann.
- Eine bedarfsgerechte Unterstützung unserer internationalen Kolleg*innen und Studierenden muss gewährleistet sein.
- Die Kolleg*innen im HRZ sowie in den E-Learning-Bereichen sind von den beiden Krisen besonders betroffen. Ihr geleisteter Mehraufwand muss entsprechend honoriert werden.
Wir Mitarbeiter*innen möchten Sie als Universitätsleitung bestmöglich unterstützen, die Forschung und Lehre an der JLU trotz der „doppelten“ Krise und der aktuellen Hindernisse auf dem gewohnt exzellenten Niveau zu halten. Dafür benötigen wir allerdings auch Ihre Unterstützung. Wir hoffen, Ihnen mit unserem heutigen Schreiben unsere besondere Situation dargelegt zu haben. Unsere Ausführungen können gerne auch als Argumentationsgrundlage für eventuelle Verhandlungen mit dem Land, der Hochschulrektorenkonferenz, verschiedenen Geldgeber*innen und Stiftungen (etc.) dienen.
Wie die mehr als 10.000 Unterzeichner*innen der nichtsemester-Initiative finden wir:
Die solidarische Bewältigung der COVID-19-Pandemie hat oberste Priorität. Ein Semester kann warten.